Rechte Gewalt wächst – und unsere Antwort muss größer werden
- Susann Seifert
- 25. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Mai
Ein Artikel von Susann Seifert
Ein mutmaßlicher Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Schmölln. Eine rechtsextreme Terrorzelle mit Verbindungen ins Altenburger Land. Fast 48 % mehr rechte Straftaten deutschlandweit. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache – und die gesellschaftliche Entwicklung noch eine deutlichere.
Die mutmaßliche rechtsextreme Terrorgruppe Letzte Verteidigungswelle (L.V.W.) schockiert: Tatverdächtige im Alter von 14 bis 21 Jahren – zwei davon aus dem Altenburger Land. Laut Bundesanwaltschaft verfolgte die Gruppe das Ziel,
„durch Gewalttaten vornehmlich gegen Migranten und politische Gegner einen Zusammenbruch des demokratischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland herbeizuführen. Zu solchen Taten zählen insbesondere Brand- und Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberheime und Einrichtungen des politisch linken Spektrums, dies gegebenenfalls auch mit tödlichem Ausgang." (Pressemitteilung Generalbundesanwalt vom 21.05.2025).
Was derzeit sichtbar wird, ist kein spontanes Auflodern, sondern das Ergebnis jahrelanger struktureller Versäumnisse. Die Radikalisierung junger Menschen ist kein "Einzelfall", sondern ein Echo auf gesellschaftliche Leerstellen: auf fehlende Räume, auf mangelnde Anerkennung, auf politische Sprachlosigkeit in der Fläche.
Und genau deshalb brauchen wir jetzt eine neue politische Haltung: weg vom Reagieren – hin zum Gestalten. Es reicht nicht, rechte Gewalt zu verurteilen. Wir müssen endlich begreifen, dass Demokratie nicht durch Repression verteidigt wird, sondern durch Beziehung, Beteiligung und Bedeutung.
Was uns die Zahlen sagen – und was sie uns verschweigen
Laut Bundeskriminalamt (BKA) wurden im Jahr 2024 insgesamt 42.733 politisch rechts motivierte Straftaten erfasst (2023: 28.945). Auch die Zahl der rechten Körperverletzungen steigt – auf 1.297 Fälle (vgl. BKA, PMK-Statistik 2024, Stand: Mai 2024). Und das sind nur die Fälle, die angezeigt und eingeordnet wurden.
Was diese Zahlen nicht abbilden, ist die Atmosphäre, in der solche Taten gedeihen: Orte ohne Perspektive. Gespräche ohne Zuhören. Jugend ohne Zukunft. Die Gewalt beginnt nicht erst beim Angriff – sie beginnt beim Ausschluss.
Radikalisierung ist kein Randphänomen – sondern eine Folge politischer Lücken
Gerade im ländlichen Raum zeigt sich: Wo öffentliche Infrastruktur ausgedünnt wird, wo Bildungseinrichtungen überlastet und Jugendclubs geschlossen sind, ziehen andere Kräfte ein. Rechte Gruppierungen bieten Zugehörigkeit, Erklärungen, Identität – dort, wo demokratische Strukturen leer geblieben sind.
Radikalisierung entsteht nicht in Isolation, sondern in Reaktion auf Ohnmacht. Wer das ignoriert, überlässt jungen Menschen die falschen Antworten.
Was jetzt zu tun ist: konkret, kommunal, konsequent
Wir brauchen eine wirksame und dauerhafte Strategie für einen Wandel – nicht nur auf Bundesebene, sondern hier vor Ort, im Altenburger Land, im Verein, im Jugendclub, im Stadtrat.
1. Jugendhilfe stärken – in die Breite statt in die Lücken
Aufsuchende, niedrigschwellige Jugendarbeit flächendeckend fördern (vgl. DJI: „Jugend ermöglichen“, 2022)
Freiwillige Jugendhilfe ausbauen und qualifizieren
Jugendbeteiligung nicht als Dekoration, sondern als demokratische Praxis verankern
2. Demokratiearbeit zur kommunalen Pflichtaufgabe machen
Lokale Demokratieförderzentren mit dauerhaftem Personal schaffen (vgl. Bundesprogramm „Demokratie leben!“)
Beratungs- und Präventionsarbeit institutionell sichern
Politische Bildung mit Lebenswelt und sozialer Realität verbinden
3. Integrationsprozesse gestalten, nicht verwalten
Sprachförderung, Bildung, Arbeit und Wohnen als integrierte Systeme denken (vgl. SVR Integrationsbarometer 2022)
Patenschafts- und Mentor*innenprogramme stärken
Kommunale Integrationspläne gemeinsam mit Betroffenen entwickeln
4. Zivilgesellschaft schützen, vernetzen und fördern
Engagierte brauchen Raum, Rechtsschutz und Rückhalt (vgl. ZiviZ-Survey 2023)
Bündnisse vor Ort stärken – gegen rechte Gewalt, für Solidarität
Politische Angriffe auf Engagierte müssen aktiv adressiert werden
5. One Governance statt Zuständigkeitswirrwarr – für wirksames Handeln vor Ort
Ein oft übersehener, aber entscheidender Hebel: die Art, wie Verwaltung und Akteure zusammenarbeiten. Statt Jugendhilfe, Integrationsarbeit, Schulamt und Fördermittelstellen getrennt denken zu lassen, brauchen wir auf Landkreisebene One-Governance-Modelle:
Bündelung von Ressourcen, Verantwortung und Wissen (vgl. BBSR: "Governance im ländlichen Raum", 2021)
Gemeinsame Strategien statt nebeneinanderliegender Zuständigkeiten
Wirkungsorientierung statt Formularpolitik
Solche Modelle sparen nicht nur Bürokratie – sie schaffen auch Vertrauen. Denn wer als Kommune sichtbar koordiniert und ansprechbar ist, sendet ein klares Signal: Wir haben nicht nur Programme, sondern Lösungen.
Räume für Demokratie, Beziehung und Selbstwirksamkeit schaffen
Demokratie braucht Orte, an denen sie gelebt werden kann – niedrigschwellige, erreichbare, einladende Räume, in denen Menschen sich begegnen, sich ausdrücken, sich einbringen können. Jugendclubs, Bibliotheken, offene Werkstätten, Kulturhäuser – sie sind keine Nebenschauplätze, sondern Voraussetzung für Teilhabe und Zusammenhalt (vgl. Schader-Stiftung: „Soziale Infrastruktur neu denken“, 2023).
Politische Wirksamkeit entsteht nicht allein durch Wahlen, sondern durch Alltagsbeziehungen: Wenn Menschen erleben, dass ihr Engagement Wirkung zeigt, wächst Vertrauen. Gerade im ländlichen Raum muss das ernst genommen werden. Deshalb gilt: Wer demokratische Resilienz fördern will, muss soziale Infrastrukturen sichern und neu denken.
Gleichzeitig braucht es eine neue Kooperationskultur: Nicht Verwaltung gegen Zivilgesellschaft, sondern gemeinsame Verantwortung von Anfang an. Lösungen entstehen im Zusammenspiel von Politik, Verwaltung, Initiativen, Wirtschaft und Bildung – in echter Ko-Produktion, nicht in starren Zuständigkeiten.
Auch Räume müssen anders gedacht werden: nicht nur als Gebäude, sondern als soziale Möglichkeitsräume. Demokratie entsteht nicht auf dem Papier, sondern im geteilten Handeln – dort, wo Menschen sich begegnen, widersprechen, gestalten.
Wir brauchen mehr als Haltung – wir brauchen Handlung mit Wirkung
Die Förderung junger Generationen ist kein "Nice-to-have", sondern die Grundlage für gesellschaftliche Resilienz. Wirkung entsteht, wenn Programme zu Beziehungen führen – und Teilhabe nicht als Ausnahme, sondern als Alltag möglich ist.
Komplexe Herausforderungen lassen sich nicht mit einfachen Lösungen begegnen, sondern nur mit systemischem Denken, gemeinsamer Verantwortung und langfristiger Strategie.
Ein Landkreis kann den Unterschied machen
Im Altenburger Land stehen wir an einem Wendepunkt. Wir können weiter zusehen, wie sich Unsicherheit, Ausgrenzung und Radikalisierung ausbreiten – oder wir setzen ein anderes Zeichen:
Wir investieren in Selbstwirksamkeit.
Wir bauen demokratische Strukturen.
Wir schaffen neue Zugehörigkeit.
Fazit: Nicht mehr reden, was fehlt. Sondern anfangen, was wirkt.
Die Herausforderungen sind groß und die Lösungen beginnen da, wo wir aufhören, nur zu reagieren – und anfangen, die Bedingungen für demokratisches Miteinander neu zu gestalten.
Was das in der Praxis bedeutet – und wie wir darüber mit Günther ins Gespräch kommen könnten – habe ich in einem offenen Brief formuliert: „Ein Brief an Günther – weil’s nicht egal ist“. Er richtet sich an all jene, die sich fragen, ob das wirklich ihr Problem ist. Und zeigt, warum genau das der Punkt ist.
Quellenverzeichnis
>> Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Festnahme von vier mutmaßlichen Mitgliedern und einem mutmaßlichen Unterstützer einer rechtsextremistischen terroristischen Vereinigung, 21.05.2025
>> Bundeskriminalamt (BKA): Politisch motivierte Kriminalität – Jahresbericht 2024 (Stand: Mai 2024)
>> Deutsches Jugendinstitut (DJI): „Jugend ermöglichen – Empfehlungen für eine zukunftsfähige Jugendpolitik“, 2022
>> Bundesprogramm „Demokratie leben!“:
>> Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR): Integrationsbarometer 2022
>> ZiviZ-Survey 2023: Daten zur Zivilgesellschaft in Deutschland
>> Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): „Governance im ländlichen Raum – Kooperation gestalten“, 2021
>> Schader-Stiftung: „Soziale Infrastruktur neu denken – Handlungsempfehlungen für Kommunen“, 2023
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