Altenburg, die Stadt der Kleingärten. 66 Anlagen machen zwei Drittel des Stadtgrüns aus. Und wer an Schrebergärten denkt, hat meist ein Bild im Kopf: akkurat geschnittene Hecken, Gartenzwerge in Reih und Glied, Rentner mit Strohhut und Spaten. Doch die Realität sieht vielerorts anders aus. Leerstand breitet sich aus. Die alten Pächter geben ihre Gärten altersbedingt auf, die Jüngeren zieht es in die Großstadt statt ins Blumenbeet. Und so stehen die Tore vieler Anlagen sperrangelweit offen – nicht für die Nachbarn, sondern für den Wildwuchs.
Ein Besucher der Veranstaltungsreihe "mittwochs um 5" des Fliegenden Salons erinnert sich an die Zeit bei seiner Oma im Kleingarten: "Früher war der Garten der Horror: Es wurde gearbeitet, wenn nicht gearbeitet wurde, wurde eingeweckt, wenn nicht eingeweckt wurde, wurde geschnippelt." Für viele aus dieser Generation war der Garten weniger ein Ort der Entspannung als eine zweite Pflichtschicht nach der eigentlichen Arbeit. Und doch: Es war ein Ort der Gemeinschaft.
Aber Altenburg zeigt, dass es anders geht. Dass Kleingärten eben nicht nur Orte der Nostalgie sind, sondern auch der Zukunft. Denn in der Anlage Einheit e.V. wird ein radikaler Gegenentwurf erprobt: Hier werden Gärten nicht mehr nur als private Rückzugsorte verstanden, sondern als soziale und kulturelle Begegnungsräume. "Man sieht nicht nur Leute mit der Trommel auf dem Markt, sondern hier auch miteinander im Gespräch", freut sich ein weiterer Besucher.
Die Gärten sind jetzt nicht nur Nutzflächen, sondern Orte des Miteinanders, Orte der Kultur. Hier entstehen Formate, die Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenbringen. So verband zum Beispiel ein interkultureller Gärtnerkurs das Lernen der deutschen Sprache mit praktischer Gartenarbeit. Ein Bauerngarten bewahrt traditionelle Pflanzenvielfalt und altes Wissen. Ein Bienenweidengarten schafft wertvolle Lebensräume für Insekten und fördert eine naturnahe Bewirtschaftung. Ein Kunstgarten verwandelt Beete in kreative Ateliers, in denen Kunst und Natur miteinander verschmelzen. Ein Historischer Laubengarten wiederum erinnert an die 1920er Jahre. Hier wird mit alten Sorten gegärtnert, und eine restaurierte Gartenlaube gibt einen Einblick in das Leben früherer Generationen. Auch für die Jüngsten gibt es einen besonderen Ort: Ein Kleinkindergarten bietet einen naturnahen Raum zum Spielen und Lernen. Gerade in Planung: Ein Sternengarten soll Pflanzen, die Himmelskörper im Namen tragen, beheimaten mit einer Gartenlaube samt Schiebedach, die zur Sternenbeobachtung einlädt.
Heute sind zehn Gärten gemeinschaftlich bewirtschaftet und belebt – ein spürbarer Wandel. Durch die Verbindung von Gartenarbeit, Kunst und kulturellen Angeboten wurde ein Umfeld geschaffen, das die Menschen aktiv einbindet und verbindet.
Gesellschaftlicher Mehrwert: Mehr als nur Gartenarbeit
Der Erfolg dieser Entwicklung zeigt sich nicht nur in Zahlen – 54 aktive Mitglieder, eine Reduktion der Leerstandquote auf 21 % –, sondern vor allem in den zwischenmenschlichen Begegnungen. Es gibt zahlreiche Geschichten von einsamen Menschen, die in der Gemeinschaft wieder Anschluss fanden, von Geflüchteten, die durch Gartenarbeit ihre ersten sozialen Kontakte in Deutschland knüpfen konnten, und von skeptischen Alteingesessenen, die ihre Vorurteile überdachten, als sie sahen, mit wie viel Hingabe neue Mitglieder die Gartenanlage pflegen.
Das gemeinsame Essen, das Verarbeiten der Ernte, das Teilen von Wissen und Ressourcen – all das schafft ein Gefühl des Zusammenhalts, das weit über den Gartenzaun hinausreicht.
Die Gartenanlage Einheit wirkt längst über ihre eigenen Zäune hinaus. Ein neu geschaffener Gartenrundwanderweg verbindet zwölf Anlagen miteinander und wird mittlerweile vom Tourismusverband vermarktet. Zudem haben sich die Gärten digital vernetzt: Eine übergreifende WhatsApp-Gruppe ermöglicht den schnellen Austausch zwischen den Anlagen. Was als lokales Experiment begann, ist nun vielleicht eine Inspiration für viele andere Gartenanlagen mit vergleichbaren Herausforderungen.

Dass Kleingärten nicht nur gesellschaftlich, sondern auch künstlerisch wertvolle Räume sind, zeigt ein bemerkenswerter Fund: Der Altenburger Maler und Grafiker Gerhard Altenbourg verewigte die Gartenanlage Einheit in seinem Werk „Gartenkolonie hinter Spinnbahn“. Das Bild wurde nicht nur international beachtet, sondern im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) ausgestellt und befindet sich bis heute in dessen Sammlungsbestand. Während die einen also noch über die Zukunft der Kleingärten diskutieren, ist sie andernorts längst in die Kunstgeschichte eingegangen.

Was hat den Wandel ermöglicht?
Ein Wandel entsteht nicht von selbst – er braucht Menschen, Strukturen und Erzählungen, die ihn tragen.
Es braucht Mut, gewohnte Pfade zu verlassen und neue Wege zu beschreiten. Menschen, die nicht nur Ideen haben, sondern Verantwortung übernehmen, andere mitreißen und zum Handeln motivieren. Ohne finanzielle Unterstützung wäre vieles nicht umsetzbar gewesen – entscheidend war, Mittel nicht nur zu akquirieren, sondern sie auch strategisch klug einzusetzen.
Ein kontinuierlicher Dialog mit Gartenfreunden, Politik und zivilgesellschaftlichen Akteuren sorgt für eine gemeinsame Verständigung und langfristige Verankerung. Partizipation ist keine Floskel, sondern gelebte Praxis: Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen werden aktiv eingebunden und können sich mit ihren Ideen einbringen.
Geschichten spielen eine zentrale Rolle – denn Wandel braucht Narrative, die sichtbar machen, warum Veränderung wichtig ist und was sie bewirken kann. Gleichzeitig geht es um den Aufbau von Wissen: Wer Kompetenzen stärkt, schafft langfristige Selbstorganisation.
Doch nicht nur das: Menschen werden ermutigt, sich selbst zu helfen, Verantwortung zu übernehmen und tragfähige Strukturen zu schaffen. Ideen müssen finanzielle Substanz bekommen – nur wer Konzepte in realistische Finanzpläne übersetzt, kann sie nachhaltig umsetzen.
Und schließlich: Veränderung gelingt nur, wenn alle mitgenommen werden. Es braucht niedrigschwellige Zugänge, die unabhängig von Sprache, Herkunft oder Vorwissen funktionieren. Denn echter Wandel beginnt dort, wo Menschen sich befähigt fühlen, selbst aktiv zu werden.
Die Altenburger Kleingartenbewegung zeigt: Gärten können weit mehr sein als grüne Inseln in der Stadt. Sie können zu Orten werden, in denen Demokratie geübt, Begegnung gefördert und gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt wird.
Kleingarten 2.0 oder Auslaufmodell?
Bleibt die Frage: Ist das die Zukunft der Kleingärten – oder nur ein schöner Versuch, das Unausweichliche hinauszuzögern? Vielleicht ist es genau das, was Zukunft ausmacht: dass sie nur da entsteht, wo Menschen sie einfach mal ausprobieren.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Kleingärten schon immer mehr waren als nur Orte für Tomaten und Bohnen. Sie waren Krisenpuffer, soziale Treffpunkte, Mikrokosmen des gesellschaftlichen Wandels. Und vielleicht sind sie genau das auch heute wieder. Vielleicht können Kleingärten die Orte sein, an denen wir lernen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen – für den Boden, die Bienen, die Nachbarn.
Vielleicht werden wir in ein paar Jahren nicht mehr fragen, wie Kleingärten überleben können, sondern wie sie die Gesellschaft retten können. In Altenburg ist dieser Prozess bereits in vollem Gange.
Susann Seifert
Dieser Beitrag entstand im Ergebnis der Veranstaltung "Mit kreativen Angeboten Polarisierung abbauen?! Erfahrungen eines Gartenvereins" im Rahmen des Formats "mittwochs um 5" des Fliegenden Salons.
Mehr Informationen zum Kleingartenverein Einheit e.V.
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si=jyT0y9HYSiC5sPIthttps://www.altenburg.tv/nachrichten/19214/Gaertnern_in_der_Einheit.html?fbclid=PAAaa8jLDzZ0DYV6IKyZVT9Fo-ZMHtsBnZ5Ie9z17Y8-wnGmT8uopPSutONq4
Veranstaltungen rund um den Gartenrundwanderweg

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