top of page

Wenn das Wasser versiegt

Das Schwimmbad von Schmölln steht vor dem Aus – und mit ihm die Frage, was unsere Demokratie im Alltag noch zusammenhält


von Susann Seifert


Es beginnt mit einer Zahl: 400.000 Euro. So groß ist das Defizit, das die Stadt oder die Stadtwerke Schmölln ausgleichen müssten, um ihr Schwimmbad, das Tatami, weiter betreiben zu können. Für eine Kleinstadt ist das eine enorme Summe. Für viele Bürgerinnen und Bürger aber ist es ein Ort, der weit mehr bedeutet als seine Bilanz.


Denn wenn bis Ende Oktober keine Entscheidung fällt, müssen die 25 Beschäftigten zum 31. Oktober gekündigt und das Bad geschlossen werden – um eine Insolvenz der Stadtwerke abzuwenden. Damit stünden nicht nur Becken leer, sondern auch Existenzen auf dem Spiel. Am 30. Oktober um 10 Uhr wollen Menschen aus Schmölln und Umgebung deshalb vor dem Thüringer Landtag demonstrieren – für den Erhalt des Tatami, für ihren Ort, für ihr Gefühl, gesehen zu werden. Die Zeit rennt.


Ein Ort, an dem Alltag gelingt

Das Tatami ist kein Spaßbad. Kein Prestigeprojekt. Es ist ein Ort, an dem Kinder schwimmen lernen, Senioren sich bewegen, Menschen mit Behinderungen trainieren und Familien gemeinsam Zeit verbringen. Ein Ort, der Alltag bedeutet – und für viele: Heimat.


Wie der Stadt- und Raumforscher Stephan Willinger vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung betont, entstehen gesellschaftlicher Zusammenhalt und Vertrauen nicht im Abstrakten, sondern in konkreten Räumen des Alltags – dort, wo Menschen einander begegnen, Verantwortung teilen und Verlässlichkeit erfahren.Solche Orte sind Teil der Daseinsvorsorge und machen sichtbar, dass Versorgung mehr ist als Infrastruktur: Sie ist die Grundlage sozialer Nähe, Teilhabe und Gemeinwohl.


Im Altenburger Land sind viele dieser Orte bereits verschwunden: die Dorfkneipe, die Bankfiliale, das Kulturhaus. Mit jedem Verlust verschwindet auch ein Stück Öffentlichkeit. Was bleibt, sind lange Wege, digitale Formulare – und das Gefühl, dass Nähe zur Ausnahme wird.


Was auf dem Spiel steht

Nach aktuellen Berechnungen beträgt das Jahresdefizit 2025 rund 1,2 Millionen Euro – selbst nach Zuschüssen und Hilfen bleibt ein erheblicher Fehlbetrag. Die Prognose für 2026 und 2027 zeigt: Ohne neue Finanzierung droht die Zahlungsunfähigkeit der Stadtwerke Schmölln, die das Tatami betreiben.


Um eine Insolvenz abzuwenden, steht jetzt eine drastische Entscheidung im Raum:Wenn bis Ende Oktober keine Lösung gefunden wird, müssen die 25 Beschäftigten des Tatami zum 31.10. gekündigt und das Bad geschlossen werden. Nur so ließe sich verhindern, dass die Stadtwerke selbst in die Insolvenz geraten.


Für die Kommune ist das ein finanzieller Kraftakt – für die Menschen, die dort arbeiten, eine existenzielle Bedrohung. Hinter jeder Zahl stehen Gesichter: Schwimmmeisterinnen, Techniker, Reinigungskräfte, Menschen, die jeden Tag dafür sorgen, dass hier Bewegung, Begegnung und Sicherheit möglich bleiben.


Wenn Alltagsorte zu Triggerpunkten werden

Der Berliner Soziologe Steffen Mau nennt bestimmte gesellschaftliche Konfliktfelder „Triggerpunkte“ – Momente, in denen sich ein allgemeines Unbehagen konkretisiert. Wenn ein Schwimmbad schließt, geht es selten nur ums Schwimmen. Es geht um das Gefühl, nicht mehr gesehen, nicht mehr gehört zu werden.


So entsteht das Empfinden: Für uns bleibt nichts. Ein stiller, aber mächtiger Triggerpunkt. Menschen erleben, dass Millionen in Landesbauten, repräsentative Kultureinrichtungen oder Ministerien fließen, während das, was vor Ort verbindet, zerbröckelt. Ein Beispiel: Für den Erweiterungsbau des Bundeskanzleramts in Berlin werden aktuell 777 Millionen Euro (!!!) bereitgestellt – während viele Kommunen um ein paar Hunderttausend ringen, um Schwimmbäder, Jugendclubs oder Bibliotheken offenzuhalten.


Stadt und Land driften auseinander

Die Raumordnungsdebatte macht diese Entwicklung sichtbar: Öffentliche Angebote konzentrieren sich in den Städten, während der ländliche Raum ausgedünnt wird. Das betrifft nicht nur Schwimmbäder, sondern Arztpraxen, Schulen, Busverbindungen und Treffpunkte.


Im Altenburger Land hängt Teilhabe heute oft vom Auto ab. Ohne Mobilität bleibt vieles unerreichbar – Bildung, Freizeit, Kultur. So entstehen neue Formen von Ungleichheit, die nicht durch Einkommen, sondern durch Entfernung bestimmt sind.


Willinger beschreibt das als Frage der Raumgerechtigkeit: Wie gerecht sind Chancen, wenn sie räumlich so ungleich verteilt sind? Und wie lange trägt eine Demokratie, wenn sich das Gefühl verfestigt, dass Räume leerer, aber Entscheidungen ferner werden?


Vertrauen entsteht im Kleinen

Das Tatami ist kein Luxus, sondern ein Ort, an dem Demokratie im Kleinen funktioniert. Hier begegnen sich Menschen, die sonst wenig Berührung hätten. Hier teilen sie Raum, Regeln und Verantwortung. Hier wird spürbar, was Gemeinwohl bedeutet – nicht als Paragraf, sondern als Praxis.


Wenn solche Orte verschwinden, verliert Demokratie ihre Alltagserfahrung. Dann bleibt sie ein Versprechen ohne Ort.


Das Tatami als Prüfstein


Am 30. Oktober um 10 Uhr wollen Bürgerinnen und Bürger aus Schmölln und Umgebung vor dem Thüringer Landtag demonstrieren – für den Erhalt des Tatami, für ihren Ort, für ihr Gefühl, gesehen zu werden.Während in Erfurt noch über Zuständigkeiten, Haushaltszahlen und Prioritäten diskutiert wird, läuft vor Ort die Zeit ab.


Das Tatami steht für mehr als Chlor und Wasser. Es steht für die Frage, ob der Staat im Nahen noch verlässlich ist. Ob Politik dort wirkt, wo Menschen leben – oder nur dort, wo sie glänzt.


Und mehr als eine Haushaltsposition

Das Tatami ist kein Einzelfall. Es ist ein Symbol für viele Orte, die das öffentliche Leben tragen – und die gleichzeitig am seidenen Faden hängen. Wenn diese Orte verschwinden, verliert das Land mehr als Infrastruktur. Es verliert Orte der Begegnung, der Teilhabe, der Demokratie.


Vielleicht ist das Schwimmbad von Schmölln genau das, was Steffen Mau einen Triggerpunkt nennt: ein Moment, in dem ein lokales Problem sichtbar macht, woran eine Gesellschaft insgesamt krankt. Denn wer im Alltag nichts mehr erreicht, verliert irgendwann auch den Glauben, dass er etwas bewegen kann. Und das wäre der eigentliche Preis, den wir zahlen – wenn das Wasser im Tatami versiegt.



Quellen (Auswahl)

  • Stephan Willinger / BBSR (2022): Narrative in der Stadtentwicklung. Ergebnisse aktueller Forschung im BBSR.

  • Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft

  • Spielgel (2025): Bundesrechnungshof kritisiert Erweiterungsbau von Bundeskanzleramt

  • Deutsche Gesellschaft für das Badewesen e. V. (2022): Bäderleben – Statistik zum Bestand öffentlicher Bäder in Deutschland

  • DLRG (2023): Schwimmfähigkeit in Deutschland

  • Thünen-Institut (2022): Ländliche Räume in Deutschland – Entwicklungstrends und Herausforderungen

Bock auf mehr Günther?
Wir auf jeden Fall! Und Sie?

 

Wenn Sie uns für weitere Magazine unterstützen wollen, hilft in erster Linie

erstmal Geld :)​​

​

Spenden Sie auf unser Konto! Spendenquittungen erteilen wir gern.​

​

Erlebe was geht gGmbH
IBAN: DE79 8306 5408 0001 6823 50
BIC: GENODEF1SLR
VR Bank Altenburger Land eG
Verwendungszweck: Günther Magzin

VIELEN DANK!

Kontakt

hallo@guenther-magazin.de

​

Redaktion:

Farbküche

Moritzstraße 6

04600 Altenburg

​

Folgen Sie uns auf:​

​Instagram: @stadtlandgestalten 

Facebook:

Stadtmenschen Altenburg

© Susann Seifert, Farbküche / Illustrationen: Maren Amini

bottom of page