Zwischen Kaffee und Kälte
- Susann Seifert
- 6. Okt.
- 6 Min. Lesezeit
Ein dritter Oktober in Altenburg – und was er über den Zustand unserer Demokratie erzählt
von Susann Seifert
Altenburg, Tag der Deutschen Einheit.
Wir sitzen auf dem Roßplan. Tische werden aufgestellt, Stühle aus dem Transporter getragen, Plakate zum Beschriften ausgelegt. Ein paar Kinder kritzeln schon erste Zeichnungen – bunte Linien, Herzen, Graffitistyles.
Hinter ihnen richten wir ein kleines Filmset ein, um O-Töne einzusammeln: Warum ist es wichtig, miteinander zu reden? Wie kommen wir wieder an einen Tisch?
Es soll ein Nachmittag des Zuhörens werden – „Heimatzeit – Gespräche zur Einheit“ –, ein offenes Format, bei dem Kaffee und Kuchen Anlass zum Gespräch bieten.
Doch während wir den Platz gestalten, verändert sich die Stimmung. Am Rande des Geschehens versammeln sich schwarz-weiß gekleidete Personen. Ein Auto mit der Aufschrift „Remigration“ parkt an der Bushaltestelle. Immer wieder läuft ein älterer Mann mit Glatze an uns vorbei, beobachtet die Situation, reagiert nicht auf ein freundliches Hallo. Später sehe ich ihn in einem Video des Protestmarschs.
Die Luft ist plötzlich dichter. Es handelt sich um Angehörige von „Der Störtrupp (DST)“ – einer Gruppierung, die laut Angaben der Bundesregierung „dem aktionsorientierten und gewaltbereiten rechtsextremistischen Spektrum zuzuordnen”[1] ist. Ihr Ziel: durch Präsenz, Uniformität und gezielte Provokation Räume zu besetzen und demokratische Veranstaltungen einzuschüchtern.
An diesem Tag, dem 3. Oktober, treten sie in Altenburg gemeinsam mit Mitgliedern der Freien Sachsen, Freies Thüringen und Die Heimat auf – Gruppen, die der Verfassungsschutz als rechtsextremistisch einordnet. Sie nutzen den Nationalfeiertag als Bühne.
Die Polizei ist vor Ort, sichert den Platz, behält die Lage im Blick. Es bleibt ruhig. Doch das Gefühl, dass etwas kippen könnte, bleibt. Und es verändert den Nachmittag – für uns, für die Familien, für die Kinder.
Solche Bilder machen etwas mit einem Ort. Sie schieben sich zwischen Gespräche und Lächeln, zwischen Kaffee und Kuchen. Und sie zeigen, warum es wieder Mut braucht, einfach nur zusammenzusitzen und zu reden.
„Tag der Deutschen Freiheit“ – die Bühne am Marstall
Wenig später begann eine andere Versammlung am Marstall - „Tag der Deutschen Freiheit“. Veranstaltet wurde sie von Freie Sachsen, Freies Thüringen und Die Heimat. Das Motto: „Ein Signal für Einheit, Freiheit und Souveränität“ – Begriffe, die hier nicht demokratisch, sondern ethnonationalistisch gemeint sind.
Die Veranstalter mobilisierten über ihre Telegram-Kanäle und warben mit Merchandise des „Sachsenversands“ – Aufkleber, Shirts, Fahnen – um „den Protest sichtbar zu machen“.
Auf der Rednerliste standen bekannte Akteure der rechten Szene.
Sprache als Schlachtfeld
In einem Video der Kundgebung ist zu hören, wie Colette Rink die Bundesregierung als uns „tief verachtend“ und „Sklavenhalter“ bezeichnet, das Land eine „Freiluftpsychiatrie“ nennt und Politikerinnen und Politiker mit sexistischen und entmenschlichenden Ausdrücken wie „Kriegrisch Fotzenfritze“, „billige Pinocchiokopie“ oder „der Kerl von der FDP mit dem roten Lippenstift, das in Brüssel sitzt“ belegt.
Sie fordert unverzüglich den „Rücktritt dieser Volkstreter“, spricht vom „öffentlich entrechteten Schundfunk“ und nennt Journalistinnen und Journalisten „Büttel“ und „Steigbügelhalter“.
Beifall gibt es für Sätze wie: „Klimagelder, die nach Nigeria gehen (…), deren Präsident von den von Deutschen hart erarbeiteten Steuergeldern SUV’s für seine Mitarbeiter der Regierung kauft“ und „Früher hätten solche Leute professionelle Hilfe bekommen.“
Dann richtet sie sich an das Publikum – über jene, die zuhause bleiben: „Die Vollhorste sitzen zu Hause, ziehen sich ihre tägliche Dosis Propaganda rein – Long-Tagesschau-geschädigt.“ „Das Problem ist, dass dieses dämliche Volk zu Hause sitzt und sich diese Scheiße bieten lässt.“ Und schließlich möchte sie „Lieber stehend sterben, als knieend weiterleben!“
In weiteren Redebeiträgen standen zwischen den Beschimpfungen Parolen: vom „Verrat am deutschen Volk“, vom „globalen Kulturkampf“ gegen den sogenannten Wokismus und von „Remigration“. Der Applaus zeigte, dass das Publikum längst in dieser Welt lebte – einer Welt, in der Wut Zugehörigkeit stiftet.
Die Rhetorik schwankt zwischen Opferrolle und Selbstüberhöhung. Sie zielt nicht auf Überzeugung, sondern auf Spaltung. Wer sich als Opfer versteht, kann sich Aggression leisten; wer sich moralisch überlegen fühlt, braucht kein Gegenüber mehr.
In den Telegram-Gruppen wiederholte sich das Narrativ: Man selbst sei friedlich – die „normale Mitte der Gesellschaft“. Weiterhin heißt es: „Als wir vom Marstall zum Theater liefen, schlug uns eine aggressive staatsfeindliche Stimmung von Linksradikalen entgegen.“
Aggression wird externalisiert, Verantwortung verschoben. Die Gewalt beginnt in der Wahrnehmung.
Zugleich werden Details aus der „Gegenveranstaltung“ – den Gesprächen zur Einheit – erfasst: Fotos vom Aufbau, von Fahrzeugen, sogar die Scheinwerfer eines Oldtimers werden verdächtig beäugt – mit dem Kommentar, sie seien „zu modern“, um ein H-Kennzeichen zu tragen.
Aus jedem Bild wird ein Verdacht, aus jedem Versuch des Gesprächs ein Angriff konstruiert. Es ist die Logik des Misstrauens, die sich hier zeigt: Wo andere miteinander reden wollen, sehen sie nur Gegner.
Nach der Kundgebung zog ein Protestmarsch durch die Innenstadt. Mit dabei: erneut Mitglieder des Störtrupps (DST). Als der Protestzug am Abend endete, sangen die Teilnehmer auf dem Marstall alle drei Strophen des "Lieds der Deutschen". Verabschiedet wurden sie mit den Worten: „Bleibt einig und standhaft im Kampf für unser Vaterland und für unser Volk.“
Altenburg antwortet – mit Kaffee, Kuchen und Haltung
Während am Marstall die Trommeln schlugen, duftete es in der Innenstadt nach Kaffee und Kuchen.
Unter dem Titel „Heimatzeit – Gespräche zur Einheit“ sprachen Bürgerinnen und Bürger darüber, was uns 35 Jahre nach der Wiedervereinigung eint und trennt. Was Freiheit heute bedeutet. Was verloren ging, was geblieben ist.
Keine Bühne, keine Lautsprecher – stattdessen Menschen, die sich an einem Tisch gegenübersaßen und zuhörten.
Vielleicht ist dies der neue Mut – nicht der des Aufbegehrens, sondern des Bleibens. Denn in einer Gesellschaft, die Lautstärke mit Stärke verwechselt, wird das Leise politisch.
Wenige Straßen weiter, am Theaterplatz, hatte das Aktionsbündnis für Demokratie und Solidarität zur Gegenkundgebung „Nie wieder Faschismus – Altenburg bleibt stabil“ aufgerufen.
Der Platz war voll – nicht mit Parolen, sondern mit Menschen. Familien, Kommunalpolitikerinnen, Vereinsmitglieder, Gewerkschafter, Studierende, Rentner, Jugendliche. Sie kamen, um Haltung zu zeigen. Um klarzumachen: Altenburg ist keine Kulisse für Hass. Altenburg ist keine Kulisse für Faschisten.
In einem gemeinsamen Aufruf formulierte das Bündnis seine Haltung deutlich:
Aggressivität – eine Frage der Wahrnehmung
Wie schon in den Reden von Colette Rink deutlich wurde, war die Sprache selbst eine Waffe – begleitet von Spott, Abwertung und der Inszenierung von Stärke. Und doch wurde in den eigenen Kommunikationskanälen betont, die Stimmung sei „friedlich“ gewesen.
In Kommentaren hieß es, am Marstall hätten sich „friedliche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft“ versammelt, während vor dem Theater „der radikale linke Mob“ oder „linke Ratten“ stünden.
Diese Wahrnehmung ist kein Zufall. Sie ist Teil einer Inszenierung: Aggression wird ausgelagert – sie liegt immer beim anderen. Die eigene Wut erscheint als Notwehr, das eigene Lautsein als Verteidigung.
Tatsächlich blieb die Kundgebung am Theater ruhig. Ihre Losung „Nazis raus“ war kein Ausdruck von Hass, sondern eine klare demokratische Abwehrhaltung. Sie richtete sich nicht gegen Menschen, sondern gegen menschenverachtendes Verhalten.
So entsteht eine paradoxe Wahrnehmung: Wer Sprache als Waffe benutzt, nennt sich friedlich. Wer Haltung zeigt, gilt als feindlich. Diese Verdrehung ist gefährlich, weil sie Gewalt normalisiert und Empathie diffamiert.
Hinter dieser Sprache der Abwertung steckt ein System. Sie ist Teil einer größeren Strategie, in der sich Akteure bewusst ergänzen – auf der Straße, in den Netzwerken und in der Politik.
Strategisches Unsichtbarbleiben?
Auffällig an diesem 3. Oktober war auch, wer nicht sichtbar war: die AfD. Keine Fahnen, keine Logos, keine Transparente.
Die einen machen Lärm, die anderen ziehen leise die Fäden – und profitieren still von der Bewegung, die andere auf die Straße tragen.

Foto: 20251003_Altenburg (300)“ von Marco Kemp, CC BY-NC-SA 4.0
Was dieser Tag lehrt
Die Ereignisse in Altenburg sind kein lokaler Zwischenfall. Sie sind ein Mikroskopbild eines größeren Prozesses: einer Gesellschaft, die sich entfremdet, und einer Demokratie, die wieder lernen muss, vor Ort zu wirken. Laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung (2024) sind nur noch 34 % der Ostdeutschen mit der Demokratie zufrieden. In Westdeutschland sind es 52 %.[2]
Die einen feiern „deutsche Freiheit“ und meinen Abgrenzung. Die anderen feiern Einheit und meinen Begegnung. Und dazwischen steht ein Land, das sich selbst erklären muss – immer wieder, jeden Tag neu.
Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe unserer Zeit: Demokratie nicht nur zu verteidigen, sondern zu vermitteln. Demokratie muss nicht nur geschützt, sondern erklärt, geübt, übersetzt werden – immer wieder neu.
Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe unserer Zeit: die Temperatur unserer Gesellschaft zu regulieren. Nicht zu heiß vor Empörung, nicht zu kalt vor Gleichgültigkeit. Sondern wach, verbunden, atmend.
Quellenverzeichnis
Deutscher Bundestag (2024): Drucksache 21/193 – Rechtsextremistische Strukturen in Deutschland. Berlin.
https://dserver.bundestag.de/btd/21/001/2100193.pdf , abgerufen am 4. Oktober 2025
Heimat Thüringen (2025): „Auf zum Tag der Deutschen Freiheit“ – Veranstaltungsaufruf vom 30. September 2025.
https://die-heimat-thueringen.de/2025/09/30/auf-zum-tag-der-deutschen-freiheit/
Friedrich-Ebert-Stiftung (2024): Demokratievertrauen in Krisenzeiten, https://library.fes.de/pdf-files/pbud/20287-20230505.pdf ,
WBZ-Wissenschaftzentrum Berlin für Sozialforschung: https://www.wzb.eu/de/forschung/wandel-politischer-systeme/zentrum-fuer-zivilgesellschaftsforschung/projekte/political-parties-in-movements , abgerufen am 4. Oktober 2025
Videoaufzeichnung der Rede von Colette Rink (BAFA, AFD-Fraktion, Aschersleben): aufgenommen am 3. Oktober 2025, Marstall Altenburg. Telegram Gruppe
Eigene Beobachtungen und Interviews: im Rahmen der Veranstaltung „Heimatzeit – Gespräche zur Einheit“ sowie der Gegendemonstration „Nie wieder Faschismus – Altenburg bleibt stabil“, 3. Oktober 2025, Altenburg.
Screenshots aus Telegram-Gruppen: gesammelt am 3./4. Oktober 2025. Beobachtung und Dokumentation der Autorin.
Aktionsbündnis Demokratie und Solidarität Altenburger Land: https://altenburg.noblogs.org/ , abgerufen am 4. Oktober 2025
[1] https://dserver.bundestag.de/btd/21/001/2100193.pdf , abgerufen am 4. Oktober 2025
[2] https://www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie , abgerufen am 4. Oktober 2025


![Die [fehlenden] Stimme(n) der Jugend](https://static.wixstatic.com/media/9e21bc_ba4166d0852e4257b35254a467ee3fa8~mv2.jpeg/v1/fill/w_980,h_735,al_c,q_85,usm_0.66_1.00_0.01,enc_avif,quality_auto/9e21bc_ba4166d0852e4257b35254a467ee3fa8~mv2.jpeg)
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